Man brachte B in eine Zelle. Der Wärter, der einzige Mensch, den B seit seiner Festnahme gesehen hatte, stand drei Meter hinter ihm. „Na, jetzt hopp! Rein da!“ B schaute zurück. „Nich mich ankiekn, rinn da! Los!“ B gehorchte und schritt gebückt durch die niedrige Tür in sein Verließ. „Ok, die Regeln sind einfach: Tagsüber wird gestanden, gelaufen oder gesessen, aber nicht gelehnt oder gar gelegen. Von neun bis sechs ist Nachtruhe. Dann wird im Bett geschlafen – aber so, dass ich Sie sehen kann! Kein Rumsporten, kein Singen, kein Lärmen, nichts Verdächtiges. Alles Weitere werden Sie schon sehen.“ Die Tür schlug laut zu, dann drehte sich der Schlüssel und der Riegel fiel. Das Zimmer, noch immer vom metallenen Widerhall durchdrungen, war gut zwei mal vier Meter groß und drei Meter hoch. Die eine Hälfte füllte ein hölzernes Bett. Auf der anderen Seite stand ein kleines Tischchen mit Hocker. Zur Tür hin fand sich eine Kloschüssel und ein Schränkchen. Gegenüber der Tür fiel graues Licht durch ein winziges Fenster, das keinen Blick hinaus ermöglichte. Hier sollte B nun vegetieren, bis er die Welt und die Welt ihn vergessen hätte.
Ganz angekommen war er noch nicht in der Zelle. Zu schnell waren die Ereignisse der letzten Tage, zu bizarr die plötzlichen Entwicklungen. Er hatte den falschen Leuten vertraut und die falschen Dinge gewagt. Auch wenn ihm das Risiko von Anfang an bewusst gewesen war, gerechnet hatte er niemals mit einem Scheitern seiner Pläne. Und jetzt, da seine Gegner ihn hatten, begriff er langsam und taub, das Spiel war verloren. B war gescheitert und er würde keine zweite Chance erhalten. Es gab kein Entkommen mehr, sein Schicksal stand fest. Die Maschinerie des Feindes hatte ihn und würde ihn mit Folter und Verhören zermahlen. Er seufzte. Schluchzte dann. Und bald fiel er auf die Knie und weinte. Warum war die Welt so zu ihm? Warum waren die Menschen so zu ihm? Er vergrub das Gesicht in seinen Händen, stechende Tränen quollen aus den Augen. Da donnerte es: „Ich habe gesagt sitzen oder stehen und immer gut sichtbar bleiben! Und jetzt finde ich Sie hier knien und laut winseln und das Gesicht bedecken! So wird das nischt, Freundchen!“ B blickte auf, die Sicht verschwommen von den Tränen. Durch eine Luke in der Tür sah er den Mund des Wärters. „Wird’s bald!“ B richtete sich auf. „Na geht doch!“ Und die Luke fuhr wieder zu. Lange würde er das nicht aushalten, verzweifelte B. Bald würde er schwach und verrückt in der Kälte der Zelle. Man würde ihn zum Verhör rufen und er würde alles gestehen und noch mehr und die Namen aller seiner Helfer.
Kurz darauf holte man B in der Morgendämmerung aus der Zelle. Der Wärter kommentierte Bs Zustand: „Wie Sie aussehen! Ganz grau und zerfetzt die Haare, ganz rot und klein die Augen. Wie die eines Schuldigen. Wohl die ganze Nacht geheult und Gott angeklagt? Hier, setzen Sie erstmal Ihre Brille auf, dann sehn Se wieder wie ein Mensch aus. Der Herr Oberverhörmeister will, dasse ordentlich aussehn, wenn Se vor ihn treten.“ B tat wie ihm geheißen und folgte dem Wärter stumm durch die leeren Gänge. Seelenlos reihte sich Tür an Tür. Hinter jeder saß wohl jemand, der Bs Schicksal ganz allein teilte. Wie viele mussten es sein? Dann kam eine Schleusentür, hinter ihr ein neuer Bereich. Dieser mutete tot an. Tot wie ein Bürokomplex in einer Behörde, der Geruch von Bodenreiniger lag in der Luft. Aus manchen Zimmern hörte B dumpf einsame Schreibmaschinenlaute. An einer Tür wie jeder anderen blieb der Wärter stehen, klopfte und öffnete. B trat ein. Danach schloss der Wärter von außen und es blieb eine angespannte Stille im Raum zurück. Das Zimmer war klein und kahl. In ihm standen nur zwei Stühle, dazwischen ein Tisch mit säuberlichen Aktenstapeln und einem Aufnahmegerät. An der B fernen Seite schrieb ein hagerer Herr in eine Mappe. Genau konnte B den Mann nicht erkennen, denn dieser saß vor dem Fenster. Man sah von ihm nicht mehr als einen dunklen Umriss vor der hellen Wand fahlen Lichts. Von der Ankunft des Gefangenen zeigte er sich wenig beeindruckt. Sein Stift kratzte unbeirrt übers Papier. Verloren kam B sich vor in dem trostlos grauen Raum. Der Herr beendete sein Schreiben, legte den Stift beiseite, schloss die Mappe und blickte auf. „Herr B, nehme ich an. Ich bin Oberverhörmeister Mühler. Setzen Sie sich.“ Während B sich auf dem Stuhl niederließ, nahm Herr Mühler eine Aktenmappe von einem bedrohlich hohen Stapel, öffnete sie und blätterte etwas. „Sie wissen, warum Sie hier sind.“ – „Ich werde Ihnen nichts sagen.“ – „Aber Herr B, wir wollen mal keine voreiligen Antworten geben. Nun gut, wenn Sie nicht reden wollen, tue ich das eben für Sie. Sie haben sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht. Welche genau dies sind, werden die folgenden Sitzungen zeigen. Ich habe Ihnen hier schon einmal ihr Geständnis vorbereitet, das Sie nur unterzeichnen müssen. Es enthält bereits alle Punkte, in denen ich von Ihrer Schuld überzeugt bin.“ B nahm das Papier und überflog es, schaute auf und bemerkte: „Wenn man so liest, was Sie mir hier alles vorwerfen, könnte man meinen, ich wäre der Teufel persönlich.“ – „Nun können wir des Teufels jedoch nicht habhaft werden. Sie hingegen sitzen hier vor mir und müssen sich für Ihre Taten verantworten.“ – „Aber, aber ich habe das alles nicht getan, was Sie mir vorwerfen.“ – „Das werden die Verhöre zeigen. Ich werde weitere Akten zu Ihnen anfordern und studieren. Bis dahin kehren Sie in Ihre Zelle zurück.“ Der Oberverhörmeister drückte auf einen kleinen Knopf in seinem Tisch, aber B hatte noch eine Frage: „Wie lange wird der Prozess dauern?“ „Das kann man nie wissen. Das hängt davon ab, wie kooperativ Sie sich zeigen. Wir sehen uns schon bald wieder. Guten Tag noch.“
Zurück in der Zelle versuchte B, seine Gedanken zu ordnen. Es war schon hell geworden und Schlaf würde ihm der Wärter um diese Zeit ohnehin nicht gewähren. Er verfiel in Grübeleien über seine Situation. Das war nicht sehr ergiebig. B schaute sich um. Es musste doch einen Ausweg geben aus diesem schäbigen Loch, in dem er saß. Doch er war nur von Trostlosigkeit umgeben, die aber zumindest Abwechslung versprach von den wiederkehrenden, mechanischen Gedanken über die ungewisse, wenn auch scheinbar vorgeschriebene Zukunft. Zunächst begann er mit dem Betrachten der Wände. Sie waren in einem sehr hellen Vanilleton gehalten. Die Farbe bröckelte stellenweise und war von Rissen durchzogen, unter denen der weiße Putz zum Vorschein kam. B fing in einer Ecke an und schritt langsam den Raum ab, fuhr mit dem Finger über die kleinen Unebenheiten der Mauer. Stunden verbrachte er damit, erstellte eine Karte der Wand in seinem Kopf. Und jeder neue kleine Riss, den er entdeckte, jedes weitere Detail versetzte ihn in helle Freude. So ging er von Seite zu Seite, betrachtete die Gesichter und Bilder, die ihm die Maler hier unwissend in zufälligen Formen hinterlassen hatten. Gelegentlich wurde B vom Wärter gestört, der Essen brachte und keine Widerrede duldete. B schlang es herunter und kehrte zur Wand zurück. Er konnte kaum von ihr ablassen, doch gab es noch so viel zu entdecken. Stuhl, Tisch, Schrank, Klo, Bett, Tür, dem allen hatte er noch keine Aufmerksamkeit geschenkt und wehmütig musste er zu ihnen übergehen, als ihm die Wand fürs Erste hinreichend betrachtet schien. So arbeitete B sich nach und nach durch die Zelle, immer wieder in große Aufregung versetzt, wenn er zu einem neuen Gegenstand überging. Er hatte seine Lebensaufgabe und Kunst gefunden: dieses Zimmer in sich Aufsaugen. Des Nachts war B vom Wärter gezwungen, ins Bett zu gehen. Doch schlief er nicht, sondern studierte die Decke und die Form der Dinge im neuen Licht der Nacht. Er wusste, nicht zu schlafen, war gefährlich, doch durfte er keine Zeit verlieren. Jederzeit könnte der Wärter kommen und ihn zum Verhör holen – oder schlimmer, ihn in eine neue Zelle bringen. Diese Aussicht beunruhigte B, denn er wollte nicht die Zelle aufgeben, die seine geworden war. Er war Teil der Zelle und die Zelle war Teil von ihm. Er durfte sich nicht von ihr losreißen lassen, sie beide waren doch eins. Andererseits war B neugierig, auch weitere Zellen und den Verhörraum zu erforschen – aber niemals um den Preis, seine kleine Welt herzugeben!
Dann kam die Nacht eines erneuten Verhörs. Der Wärter schritt den Gang entlang, um B zu holen. Normalerweise pflegte man, Gefangene Tag für Tag zu verhören, um sie in Unruhe zu halten. Aber wollte man bei B eine neue Verhörtechnik versuchen: die der einsamen Ungewissheit. Und bisher hatte dies ausgezeichnet funktioniert. Von selbst hatte er keine Ruhe gefunden, sondern war verwirrt durchs Zimmer gekrochen, mit den Augen direkt über der Wand nach irgendetwas suchend. Ganz kurzsichtig musste man davon werden, dachte sich der Wärter und blickte durch den Türspion in die Zelle. Seltsamerweise sah er nur schwarz. Na sowas, funktionierte das Licht nicht? Oder hatte der Gefangene es gewagt, das Guckloch abzudecken? Der Wärter forderte Verstärkung an und öffnete die Tür vorsichtig. Doch mit dem, was er sah, hatte er nicht gerechnet. Das war ihm in seiner ganzen Dienstzeit noch nicht passiert. Der Gefangene war weg. Und nicht nur er. Mit ihm war die gesamte Zelle verschwunden. Der Tisch, der Hocker, das Bett, der Schrank, das Klo, ja sogar die Innenseite der Tür und der Putz von den Wänden, alles hatte sich in nichts aufgelöst. Das den Vorgesetzen zu erklären, dürfte eine komplizierte Angelegenheit werden.