In der Ferne sehe ich den Bus um die Ecke biegen. Er kam nicht durch die Sitzblockade vor der Schule, also hat er gewendet. Uns war gleich klar, dass er dann hier langfahren wird, um die Refugees durch die Lausitzer aus dem Sperrgebiet zu bringen. Aber fast alle sind bei der anderen Blockade geblieben. Wir sind nur zu dritt. Erwartet denn niemand anders hier den Bus? Leute gehen an uns vorüber. Sie merken nicht, wie wichtig dieser Fleck Kreuzberger Asphalt ist. Sie müssen stehen bleiben! Wie mache ich sie aufmerksam? Ich rufe: „Ich sehe einen Bus. Warten wir nicht alle auf einen Bus?“ Ein komischer Satz. Wie formuliert man so etwas, ohne danach als Rädelsführer festgenommen zu werden? Heutzutage wird einem ja vieles als Aufruf zu Gewalttaten ausgelegt. Die Leute müssen stehen bleiben. Bitte bleibt stehen! Ein paar begreifen tatsächlich, was los ist.
Auch die Polizisten vor uns begreifen, was los ist. Sie bewachen ihr Tor aus Hamburger Gittern. Sie werden es öffnen, sobald der Bus uns erreicht. Dieser nähert sich langsam. Ein Polizeiwagen fährt vor ihm. Es sind viel mehr Polizist*innen hier als Demonstrant*innen. Doch wir werden mehr… Ein Dutzend, vielleicht zwei – immer noch viel zu wenige. Der Bus ist gleich da. Er steht vor uns. Schon öffnet sich das Tor. Unsere Leute versuchen, eine Sitzblockade zu errichten. Sie werden sofort zu den Seiten gezerrt und geworfen. Im Getümmel fliegt ein Stoß Flyer aus meiner Bauchtasche. Habe ich noch etwas anderes verloren? Unsere Aktion hält das Polizeifahrzeug und den Bus minimal auf. Für alle paar Sekunden, die wir hier gewinnen, werden wir einer mehr. Das ist gut. Hoffentlich hat jemand das schon auf Twitter gepostet. Vielleicht stoppen wir den Abtransport. Der Bus will wieder losrollen.
Ich stelle mich vor den Busfahrer. Eine Scheibe und ein halber Meter trennen uns. Ich versuche, nur ihn zu sehen. In ein paar Sekunden werden Polizist*innen bei mir sein. Werden sie mich hinterrücks mit Schlagstöcken oder Pfefferspray angreifen? Festnehmen? Fortschleifen, auf den Boden schmettern und fixieren? Ich versuche, nicht daran zu denken. Bloß den Busfahrer anschauen! Er ist das Zentrum. Er sieht aus wie der normalste Busfahrer der Welt. Er harrt aus, als würde er an der Ampel oder im Stau stehen. Hat er so einen Tanz von Protest und Polizei schon einmal vor seiner Stoßstange erlebt? Er würdigt mich keines Blickes. Keine Regung zu merken. Sein Starren sticht an mir vorbei Richtung der Feuerwache. Wie fern man jemandem sein kann, von dem einen nur eine Scheibe trennt. Bemerkt er mich? Dumme Frage! Natürlich weiß er, dass ich hier stehe. Stünde ich nicht hier, wäre sein Weg frei. Sein Fuß würde sich aufs Gaspedal senken. Wieso kann er mich nicht ansehen? Hat er ein schlechtes Gewissen?
Was ist überhaupt mit den Refugees? Es hieß, viele hätten die besetzte Schule gerne verlassen. Vielleicht hassen sie mich, weil ich ihren Bus behindere? Ich bemühe mich, ihre Gesichter im hinteren Teil des Busses zu entdecken. Ich erkenne wenig. Die Scheiben sind getönt. Da reißt es mich davon. Ein Beamter hat mich gepackt und schleudert mich einfach zur Seite. Ich wiege nicht viel. Das war ein sehr kollegialer und kontrollierter Wurf. Hatte ich Glück mit meinem Beamten? Ich lande aufrecht auf meinen Füßen. So etwas Nettes hatte ich kaum erwartet. Unbehelligt stehe ich neben dem Bus. Die Polizist*innen nehmen keine Notiz mehr von mir. Andere Demonstrant*innen werfen sich jetzt abwechselnd vor Bus und Einsatzwagen. Hoffentlich passiert niemandem etwas.
Durch die Busscheibe trifft mich der Blick eines Mannes. Schaut er mich schon länger an? Sein Gesicht ist nah am Glas. Er guckt freundlich. Sein Daumen hebt sich. Er lächelt. Offenbar findet er es gut, dass wir da sind. Ich winke ihm und versuche, ihn Mut-machend zu grüßen. Aber ich weiß: Wir sind selbst hilflos. Sieht man mir das an? Blicke ich wehleidig? Merkt er meine Ratlosigkeit? Er hält die Fläche seiner zweiten Hand an die Scheibe. Plötzlich stehe ich bei ihm. Ohne einen Gedanken bin ich die drei Meter an den Bus herangetreten. Meine Hand legt sich auf die andere Seite der Scheibe. Wäre nicht ein Zentimeter Glas zwischen unseren Handflächen, wir würden uns berühren. Wir sehen einander in die Augen. Es existieren kurz nur wir zwei und das Glas zwischen unseren Händen. Ich pendle zwischen Melancholie und Mut. Wie nah man einem Unbekannten sein kann, von dem einen eine Scheibe trennt. Er gibt mir Kraft. Wie zum Abschied schlägt er seine flache Hand seicht auf das Fenster. Ich erwidere die Bewegung, als wäre ich sein Spiegelbild. Gleichzeitig erreichen unsere Hände das Glas. Durch die Scheibe vibriert ein dumpfer Klang. „Treten Sie bitte beiseite“, schiebt mich ein Polizist weg vom Wagen. Jetzt klopfen mehrere Menschen im Bus rhythmisch von Innen gegen die Scheiben. Es hat sich ausgebreitet. Tock-Tock-Tock melden sich ein Dutzend Hände aus dem Glassarg auf Rädern. Auch der Polizist schaut sich um. Das ist gruslig! Dieses Klopfen erinnert mich an eine Szene aus einem Holocaust-Film: Dort hört man das panische Hämmern aus der Gaskammer langsam ersterben. Selten hat ein Film so traumatische Motive so tief in meinen Kopf gepflanzt. Das Gaskammer-Bild ist viel stärker als das, was hier passiert. Ganz unangemessen. Hier sitzen nur Menschen in einem luxuriösen Linienbus. Kein Gas, keine Toten. Es beeindruckt mich doch.
In der Schule hatte es einen Toten gegeben. Viele der Menschen in diesem Bus sind aus noch viel brutaleren Welten zu uns gekommen. Wie kaputt müssen ihre Herkunftsorte und wie unerträglich müssen die Flüchtlingsheime sein, dass sie das Leben in einem maroden und mörderischen alten Schulgebäude vorzogen? Ich kann es mir nicht vorstellen. So viel trennt mich von den Leuten in diesem Bus, viel mehr als eine Scheibe! Vermutlich ist von all diesen Welten jenseits des Glases die des Busfahrers der meinen am ähnlichsten. Ausgerechnet dieser Busfahrer, der unsere Koexistenz mit seinem Weggucken leugnen wollte, soll mir am nächsten sein?
Vielleicht bringt dieser Bus die Insassen wirklich an einen besseren Ort. Die meisten werden früher oder später natürlich wieder irgendwohin abgeschoben werden. Unser Sozialsystem kann so viele Flüchtlinge nicht verkraften, wurde mir kürzlich erklärt. Vor diesem Hintergrund scheint es vielen am verantwortlichsten, vereinzelte Geflüchtete in jene Krisenregionen zurückzuschicken, in denen ihre Familien schon ermordet wurden und wo erst recht kein Sozialsystem existiert. Wenn wir schon für die Bänker die Gürtel enger schnallen sollen, dann doch zumindest nicht auch noch für die Neger! Ist Sarkasmus eine gute Antwort auf Zynismus? Einige Refugees werden dann erneut versuchen, in die EU zu gelangen, und im Mittelmeer ertrinken. Oder sie nehmen sich im Flüchtlingsheim das Leben. Oder sie werden von denen gelyncht, vor denen sie geflohen waren. Aber für manche von den Leuten in diesem Bus mag heute auch der Tag sein, ab dem alles besser wird. Wer bin ich, mich diesen Reisenden in den Weg zu stellen?
Es wird mir wieder klar: Sie haben gegen die Scheiben geschlagen! Wohin auch immer ihre Reise geht, offensichtlich sind sie gerade gegen ihren Abtransport. Weil ich mir nicht vorstellen kann, in der Ohlauer-Schule zu wohnen, glaubte ich irgendwie den Mythos von den freiwillig abreisenden Flüchtlingen. Was bin ich eigentlich für ein Idiot? Musste ich ernsthaft erst den verzweifelten Bus der „freiwillig“ Abreisenden berühren, um zu verstehen? Hier hatten Menschen in der ehemaligen Schule einen Hauch von Zufluchtsort gefunden. 900 Polizisten waren nötig, damit sie ihn aufgaben. Nötigung ist noch perfider, wenn man dazu behauptet, die Genötigten täten das freiwillig. Und ich behüteter Studi und die behüteten Journalist*innen glaubten das, weil wir auch freiwillig in jeden Bus steigen würden, der uns aus so einer Welt zu einem Ort mit warmen Duschen fährt. Und jetzt? Menschen klopfen von Innen gegen den Bus und die Türen bleiben geschlossen, verdammt. Das macht mich fertig. Wenn sie freie Menschen sind, dann ist das hier doch Menschenraub, oder? Kann das hier überhaupt legal sein? Ich weiß es nicht und ich werde sicherlich auch nicht versuchen, darüber jetzt mit dem Polizisten neben mir zu verhandeln. Lässt ihn das Klopfen möglicherweise auch zweifeln?
Ich laufe neben dem langsam fahrenden Bus her und bleibe in der Nähe des Mannes hinter der Scheibe. Er ist jetzt mein nächster Verwandter. In zehn Minuten wird unsere Verbindung wieder abgerissen sein. Immer wieder halten unsere Leute den Bus kurz auf. Manchmal bin auch ich dazwischen. Wir sind jetzt beim Görlitzer Bahnhof. Der Verkehr war nicht einmal gesperrt. Ein Auto steht sinnlos auf der Kreuzung und blockiert den Bus versehentlich. Die überforderte Fahrerin setzt zurück. Wir sind immer noch viel zu wenige und der Entführer-Bus gewinnt immer mehr Raum. An der Ecke gucken Leute Fußball. Die Polizei-Truppen verstärken sich. Sie passen auf, dass wir nicht vom Bus überfahren werden. Sie sichern sogar die Achsen des Fahrzeugs. Das ist schon irgendwie zuvorkommend. Ich nehme an, sie haben noch weniger Interesse als wir daran, dass hier ein Demonstrant schwer verletzt wird.
Mit anderen Demonstrant*innen flankiere ich den Bus von links. Wir laufen unter der U1-Trasse entlang. Unsere eigenwillige Karawane bewegt sich auf den Kotti zu. Wenn da nicht das totale Chaos herrscht, werden wir den Abtransport wohl nur noch minimal bremsen können. Ich klemme mich direkt hinter einen Polizisten, der sich intensiv mit seinem Head-Set unterhält. Was haben die vor? Er wirkt angespannt und fühlt sich wichtig. Wenn ich doch bloß Dienstgrade erkennen könnte… Verstehe ich, was er sagt? Ein Jugendlicher läuft zur Spitze und rempelt dabei den Beamten an. Das scheint ein Affront zu sein. Jedenfalls sprintet der wichtige Beamte sofort los, um den Rempler zu schnappen. In meinem Hirn läuft schon der Film, wie er den Jungen niederreißen wird. Andere Polizist*innen werden dazu stürmen. Sie werden auf ihn eintreten – denn ihr Kollege wird ja keinen Unschuldigen umgehauen haben.
Doch der Junge ist schnell. Er hat Glück. Der wichtige Beamte bleibt in einer Gruppe von Leuten hängen, denen er ungeschickt von hinten aufläuft. Haben sie ihn absichtlich abgedrängt? Ich glaube nicht. Die Wut des wichtigen Beamten richtet sich jetzt auf den Typen, an dem er stoppen musste. Er schiebt ihn nach rechts. Erst vielleicht, um links durchzukommen. Doch der Schub hält an, jetzt sind sie schon auf der Fahrbahn. Einen Meter von dem fahrenden Tross entfernt. Krass, das ist gefährlich! Der Polizist lässt nicht locker. Leute brüllen. Ist der Mann verrückt? Das Gespann ist jetzt zwischen den Autos. Der Demonstrant stürzt. Fuck! Die Zeit steht still. Alle Umstehenden bangen. Wie wird er landen? Sein Kopf senkt sich langsam in die Bahn eines Einsatzwagens. Angst. Sein Schädel geht einen halben Meter neben dem Wagen nieder. Knapp. Die Zeit läuft wieder schneller. Jetzt zerren ihn Polizisten schon wieder zur anderen Seite. Das hätte leicht tödlich enden können! Checkt das der wichtige Beamte überhaupt? Er muss es eigentlich wissen. Er hat gerade einen Menschen fast vor ein Auto geworfen.
„Sag mal, willst du, dass heute hier noch jemand stirbt?“, spreche ich den wichtigen Beamten an. Wie reagiert man auf so eine Frage? Er antwortet entschieden: „Ihr instrumentalisiert die Flüchtlinge hier. Wenn heute jemand stirbt, seid ihr schuld daran! Ihr missbraucht die Menschen in der Schule für eure Zwecke!“ Das mit dem Instrumentalisieren habe ich die letzten Wochen zu oft gehört: „Wie soll das denn meinen persönlichen Zwecken dienen? Gibt mir irgendwer ein Eis dafür, wenn die Leute hier Bleiberecht erhalten?“ Er antwortet nicht. Irgendwie will ich noch mehr sagen. Ich füge hinzu: „Und wenn du jemanden vor ein Auto wirfst, dann bin ich daran ganz sicher nicht Schuld!“ Nach Gesprächen scheint dem Beinahe-Mörder nicht zumute zu sein. Er formiert sich wieder mit seinen Kollegen. Will ich ihn noch nach seiner Dienstnummer fragen? Mir fehlt die Kraft für dieses Spiel. Mein Blick wandert wieder nach vorne zum Bus.
Der Bus ist schon hundert Meter von uns entfernt. Den stoppen wir nicht mehr. Auch meine Leute lassen vom Bus ab und sammeln sich, um in Richtung Schule zurückzukehren. Offenbar sind wir vollzählig. Der Busfahrer, der Refugee und die Scheibe sind weg. Ich werde sie nie wieder sehen. Ich wünsche ihnen das Beste. Den verrückten Polizisten werde ich vielleicht gleich wiedertreffen am Rande des Sperrgebiets. Hoffentlich hat er Feierabend, bevor er jemanden verletzt. In der Ferne sehe ich den Bus um die Ecke biegen.
[Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten am Rande der #Ohlauer-Räumung am 24. Juni 2014 in Kreuzberg. Das ehemalige Schulgebäude wurde im Zuge der Refugee-Proteste von Flüchtlingen besetzt.]
BotOfWar
Sehr schön geschrieben, hab am Stück alles gelesen. Bei der Schreibweise hätte ich sicherlich ein Buch von dir gekauft.